Seit ein paar Monaten kommt Edith regelmäßig in eine meiner offenen Yoga-Stunden. Edith ist eine rüstige 84-jährige Dame, heißt eigentlich anders (ich habe sie für diesen Text umbenannt) und sie ist neu im Yoga. Obwohl sie mitten im Leben steht, hat sie in ihrem Alter natürlich einige körperliche Herausforderungen. Viele Übungen sind für sie mit Mühe verbunden. Bewegungen und Abläufe, die für jüngere Menschen selbstverständlich sind, erfordern bei ihr mehr Zeit, Achtsamkeit und Vorsicht. An manchen Tagen oder in manchen Haltungen geht ihr die Kraft schnell aus – obwohl ich in der Zusammenstellung der Yoga-Praxis besondere Rücksicht auf sie nehme und natürlich auch mit Modifikationen und Hilfsmitteln arbeite.
Von solchen Einschränkungen lässt sich Edith jedoch nicht abhalten. Sie kommt jede Woche weiter zum Yoga – und verbreitet ehrfürchtiges Staunen bei allen anderen im Raum (meiner selbst eingeschlossen).
Deshalb möchte ich heute 3 Dinge mit dir teilen, die wir von Edith lernen können. In ihren eigenen Worten:
1. „Ich mach halt das, was ich kann. Und das, was ich nicht kann, lass ich aus.“
Edith hört auf ihren Körper. Sie spürt, wie viel Anstrengung gut für sie ist und wann es besser ist, eine kurze Pause zu machen oder eine Übung auszulassen. Sie geht weder mit sich selbst in den Wettbewerb noch mit anderen Kursteilnehmerinnen. Natürlich wünscht sie sich ihre frühere Beweglichkeit zurück, aber beim Yoga geht es ihr nicht darum, den anderen etwas zu beweisen.
Sie respektiert ihre Tagesform. Denn eigentlich könnte man noch ergänzen: „Ich mach halt das, was ich heute kann. Und das, was ich heute nicht kann, lass ich aus.“
Ihre Yoga-Erfahrung in der Stunde lässt sie sich nicht von ihrem Ego zerstören. Blöcke, Gurte oder Decken sind für sie kein Zeichen von Schwäche, sondern willkommene Hilfsmittel, die ihr zusätzliche Stabilität oder einfach mehr Komfort schenken. Unnötige Quälerei – nein, danke!
2. „Es ist schon anstrengend, aber ich probier’s – und ich will weiter dranbleiben.“
Herausforderungen sind Edith aber sehr wohl willkommen. Sie gibt sich Mühe, weil sie weiß, dass ihre Muskeln und ihr Gleichgewichtssinn Training brauchen. Für sie ist es nicht mehr nur Theorie oder ein fernes Zukunftsszenario, dass ein Körper mit der Zeit an Kraft und Beweglichkeit verliert. Gut für sich zu sorgen und die eigenen Fähigkeiten zu erhalten, werden zur Priorität, wenn die früher selbstverständlich geglaubte Gesundheit und Fitness nachlässt.
Edith erwartet nicht, dass ihr etwas sofort leicht fällt, sondern findet es selbstverständlich, dass Dinge Übung und Regelmäßigkeit brauchen. Deshalb hat sie jetzt nach wenigen Monaten schon ihren Stammplatz im Kursraum, den die anderen Teilnehmerinnen für sie freihalten und mit Matte und Hilfsmitteln vorbereiten.
3. „Mir tut das bewusste Atmen gut, das bringt mich immer so schön runter. Ich steh immer so viel unter Strom.“
Yoga ist nun einmal kein Sport. Auch die Asana-Praxis darf und soll Gelegenheit geben für das, was die Yoga-Philosophie „Smarana“ nennt: Momente, die es uns ermöglichen, uns an unsere wahre Natur zu erinnern. Daran, dass wir mehr sind als nur unser von Sorgen und Nöten getriebenes „Alltags-Ich“.
Edith kann sich darauf einlassen, über die Yoga-Praxis ihren Atem neu zu entdecken und sich selbst auf eine andere und entspanntere Weise zu erleben. Statt ungeduldig zu werden, nimmt sie Atempausen, Savasana und Entspannungsübungen gern an.
Wenn Akrobatik keine Option ist, dringt man manchmal viel leichter zum Kern des Yoga vor. „Heute habe ich mich sogar beim Atmen gefunden“, sagte Edith mir diese Woche sehr zufrieden nach der Stunde.
Edith nimmt sich selbst nicht so wahr, aber sie ist ein leuchtendes Beispiel für alle anderen im Kurs.
Häufig entschuldigt sie sich dafür, dass sie „die Gruppe aufhält“ (was sie nicht tut). Wir anderen antworten dann einstimmig, wie beeindruckt wir von Edith sind und wie viel Respekt wir vor ihr haben. Denn wie bemerkenswert ist bitte der Mut, mit über 80 Jahren zum allerersten Mal in eine Yoga-Stunde zu gehen und das Ganze zu einer neuen Gewohnheit zu machen?
Ein Satz, der von unterschiedlichen Teilnehmerinnen immer wieder gefallen ist in den letzten Monaten:
„Ich hoffe, ich bin mit 84 auch so.“
Genau deshalb schreibe ich dir hier, was meine Kursteilnehmerinnen und ich an Edith so bewundern. Denn wenn wir mit 84 so sein wollen wie Edith, ist der beste Weg: jetzt schon in unserer Yoga-Praxis damit anzufangen!
Wenig Ego. Viel Übung. Verbunden mit dem Atem und mit uns selbst.
Und übrigens: Nach dem Yoga setzt sich Edith jedes Mal mit einer Freundin zusammen und trinkt einen Latte Macchiato. Bewusste Pausen, ein entspanntes Miteinander, Lebensfreude und Genuss, statt zum nächsten To-do weiter zu hetzen. Vielleicht ist das ja eine vierte Lektion, die wir uns von Edith abschauen können.
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