„Steffi, ich muss dir unbedingt noch was erzählen. Ich hab jetzt den Beweis, wie Yoga Nidra wirkt!“ Das sagte eine Teilnehmerin (nennen wir sie einfach Karin) vor einiger Zeit zu mir, sichtlich begeistert. Sie hatte mehrere Wochen an einem Entspannungskurs teilgenommen, in dem wir Yoga Nidra praktizierten. Von diesem „yogischen Schlaf“ heißt es, dass er effektiver und erholsamer sein soll als der typische Nachtschlaf – und das sogar bei vollem Bewusstsein. Aber was genau hatte Karin erlebt, das sie so sicher machte?
Ein Versehen, das zum Aha-Moment wurde
In diesem Entspannungskurs trafen wir uns einmal pro Woche abends über Zoom für die Yoga-Nidra-Übungen. An einem dieser Termine hatte Karin zuvor auf ihrer Smartwatch schon aus Versehen das Schlaf-Tracking aktiviert. Während des Kurses und den gesamten restlichen Abend über beobachtete die Uhr also Karins „Schlafverhalten“.
Als Karin dies später feststellte und einen Blick in die Statistik warf, stellte sie fest: Während ihrer Yoga-Nidra-Entspannungseinheit befand sich Karin laut ihrer Smartwatch in einer 17-minütigen Tiefschlafphase.
Warum das so bemerkenswert ist? Weil Karin sich natürlich entspannt hatte – aber nach eigener Aussage jeden Teil der Übung bewusst miterlebt hatte!
„Ich war wirklich die ganze Zeit bei Bewusstsein – und trotzdem hat die Uhr Tiefschlaf gemessen. Das hat mich richtig überrascht.“
Sie hatte bereits Erfahrung mit Yoga Nidra und wusste in der Theorie, dass genau dieser Effekt Yoga Nidra so besonders macht. „Aber das jetzt auch an den konkreten Messungen meiner Uhr zu sehen, das war beeindruckend“, erzählte Karin mir.
Was passiert bei Yoga Nidra?
Yoga Nidra lässt sich als „yogischer Schlaf“ übersetzen, wird aber manchmal auch als „erleuchteter Schlaf“ bezeichnet. Ein ganz typischer Punkt in der Anleitung besteht darin, die Teilnehmer zu ermutigen:
- Der Körper darf schlafen.
- Der Geist darf schlafen.
- Das Bewusstsein bleibt wach und präsent.
Und das sind nicht einfach nur schöne Phrasen, die dich (oder deine Kursteilnehmer) tiefer in die Entspannung hineinsäuseln sollen. Sondern genau das passiert tatsächlich bei Yoga Nidra, wie Karins Smartwatch gezeigt hat.
Yoga Nidra führt nicht nur den Körper systematisch in eine tiefe Erholung, sondern auch das Gehirn entspannt sich. Von den Beta-Gehirnwellen (bei typischen Alltagsaktivitäten) wechselt das Gehirn zunächst zu einem entspannteren Zustand mit Alpha-Wellen. Und von dort verlangsamen sich die Gehirnwellen noch weiter, bis Theta- oder sogar Delta-Gehirnwellen erreicht werden. Diese Delta-Wellen sind es, die sonst üblicherweise im Tiefschlaf gemessen werden.
Die Gehirnaktivität bei Yoga Nidra ist also vergleichbar mit typischen Schlafphasen – nur dass diese bewusst durchlebt werden können.
Wie messen Smartwatches die Schlafqualität?
Jetzt muss man natürlich festhalten: Karins Smartwatch hat nicht die Gehirnwellen direkt gemessen.
Im Schlaf verändert sich aber parallel zu den Gehirnwellen auch die Herzfrequenz. Und diese kann von Smartwatches gemessen werden. Hinzu kommen können (je nach Modell) Daten von weiteren Sensoren, die Bewegungen, Sauerstoffsättigung im Blut oder die Körpertemperatur erfassen. Basierend auf all diesen Messungen wertet eine Smartwatch die Art und Dauer der einzelnen Schlafphasen aus.
Smartwatches können somit gute Anhaltspunkte für die Schlafqualität insgesamt geben. Das Institut für digitale Schlafmedizin weist aber daraufhin, dass sich Schlafmediziner nicht allein auf die Angaben von Smartwatches verlassen, um einen aussagekräftigen Befund zu erstellen.
Karins Beobachtung ist also eher ein „Experiment für den Hausgebrauch“ und erfüllt keine wissenschaftlichen Standards.
Was sagt die Wissenschaft dazu?
Dennoch gibt es auch wissenschaftliche Untersuchungen, die zu dem gleichen Ergebnis kommen. Swami Rama ließ sich bereits in den 1970er-Jahren an ein EEG anschließen und demonstrierte, dass er den Zustand von Yoga Nidra mit Delta-Gehirnwellen gezielt hervorrufen und dabei volles Bewusstsein behalten konnte, wie der Wissenschaftler Elmer Green, PhD, in „Biofeedback and Yoga“ festhielt.
Auch das Buch Yoga Nidra von Swami Satyananda Saraswati führt im Anhang diverse Untersuchungen zur Wirkung von Yoga Nidra auf – siehe insbesondere den Beitrag „Bilder von der Aktivität des Gehirns während Yoga Nidra“ von Robert Nilsson (ab Seite 254). Darin heißt es ebenfalls:
„Während der Ausführung von Yoga Nidra zeigten die Messungen der Gehirnaktivität (EEG), dass sich die [Versuchspersonen] während der ganzen Periode in einem tief entspannten Zustand befanden, der dem Schlaf ähnlich war.“
(Seite 257)
Warum Yoga Nidra so wirksam ist
Die wohl berühmteste Aussage über die Wirkung von Yoga Nidra stammt von Swami Satyananda Saraswati selbst, der die heutige Form dieser Praxis nachhaltig geprägt hat. In seinem Buch Yoga Nidra schreibt er:
„Yoga Nidra ist eine bessere und wirksamere Form der psychischen und physischen Erholung und Erfrischung als der herkömmliche Schlaf. […] Die völlige Entspannung während einer Yoga Nidra Stunde entspricht vier Stunden, die wir ohne Bewusstheit schlafen.“
(Seite 16/17)
Schon eine halbstündige Yoga-Nidra-Übung, wie Karin sie in meinem Kurs praktiziert hat, ist also eine hervorragende Möglichkeit, zu jeder Tageszeit eine wohltuende und höchsteffektive Pause einzulegen. Gerade bei Schlafproblemen, Stress oder mentaler Erschöpfung kann Yoga Nidra eine kraftvolle Unterstützung im Alltag sein.
Auf physiologischer Ebene verbessert sich dabei die Stressregulierung. Mit ein bisschen Übung gelingt es immer leichter und schneller, in diesen Entspannungszustand hineinzufinden. Im Nervensystem schaltet sich der Parasympathikus ein – jener Teil, der für Regeneration, Verdauung und Erholung zuständig ist. Puls und Blutdruck sinken, die Atmung wird ruhiger, Muskeln entspannen sich. Gleichzeitig verringert sich die Ausschüttung von Stresshormonen wie Cortisol. Unter dem Einfluss des Parasympathikus kommt der Körper in einen Zustand, in dem regenerative Prozesse wie Zellaufbau, hormonelles Gleichgewicht oder Immunaktivität gefördert werden können.
Gleichzeitig kann auch die Psyche entspannen. Körper, Atem, Gedanken oder Gefühle werden bewusst wahrgenommen – allerdings aus einer Beobachterrolle heraus. Durch die geführte Struktur der Übung (zum Beispiel Body Scan, Atemwahrnehmung, Visualisierungen) bleibt der Geist zunächst zwar aktiv, aber nicht mehr identifiziert. Das schafft schließlich eine innere Weite. An diesem Punkt ist Yoga Nidra keine Übung mehr, sondern ein Zustand: eine Art Schwebezustand jenseits von Wachen, Schlafen und Träumen, der sehr treffend als „erleuchteter Schlaf“ beschrieben wird.
Zwischen Beweis und Erfahrung: Warum Zahlen nicht alles sind
Natürlich war es beeindruckend, was Karins Smartwatch gemessen hat: eine Tiefschlafphase mitten in einer bewussten Entspannungsübung. Solche Daten können neugierig machen, bestärken – und vielleicht sogar überzeugen. Für viele Menschen ist es hilfreich, wenn das Unsichtbare messbar wird und wenn sie die Aussagen wissenschaftlicher Studien in ihren eigenen Smartwatch-Beobachtungen bestätigt finden.
Die Wirkung von Yoga Nidra erschöpft sich jedoch nicht in Zahlen. Oftmals zeigt sie sich viel subtiler. Schließlich ist Yoga Nidra nicht einfach nur eine Entspannungsübung, sondern eine tantrische Praxis, die in den Zustand von Samadhi führt – was gemeinhin als verschiedene Ebenen von Erleuchtung beschrieben wird.
Diese Form des bewussten, aber gelösten Wahrnehmens kann helfen, festgefahrene Denkspiralen zu unterbrechen. Viele Teilnehmerinnen berichten, dass sie sich nach einer Yoga-Nidra-Session nicht nur erholt fühlen, sondern auch mehr Klarheit empfinden – oder ein Problem plötzlich mit mehr Abstand betrachten können.
Dass Yoga Nidra wirkt und ihr gut tut – das wusste Karin eigentlich auch schon lange vorher. Und dann zeigt manchmal sogar die Technik, was die innere Erfahrung schon lange bezeugt hat.
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