Angenommen, du sollst 15 Minuten allein in einem schmucklosen Raum verbringen – ohne dein Handy oder andere Beschäftigungen. Könntest du einfach in der Stille sitzen oder würdest du dich lieber mit unangenehmen Elektroschocks ablenken?
Genau das haben amerikanische Wissenschaftler der University of Virginia schon 2014 in einer Serie von Experimenten erforscht.
Nichtstun, Stille und das Alleinsein mit den eigenen Gedanken sind für viele Menschen eine Herausforderung. Aber ist all das so unangenehm, dass sich Menschen freiwillig per Knopfdruck Stromstöße verpassen, um sich zu beschäftigen?
Offenbar! In diesen 15 Minuten verpassten sich etwa ein Viertel der weiblichen Versuchsteilnehmer mindestens einen Stromstoß. Bei den männlichen Probanden waren es sogar zwei Drittel.
Und das, obwohl sie auch vorher schon wussten, wie unangenehm die Elektroschocks sind: Alle Probanden hatten vor dem Experiment testweise einen Stromstoß bekommen – und angegeben, sie würden lieber 5 Dollar zahlen, als so etwas zu wiederholen!
Wie ist deine Beziehung zu Stille?
In der Yoga-Welt taucht immer wieder der schöne Satz auf: „Die Stille ist nicht leer, die Stille ist voller Antworten.“
- Das können Antworten sein, nach denen wir bewusst suchen, zum Beispiel wenn wir ein Problem lösen wollen.
- Das können spontane Eingebungen und Aha-Momente in der Meditation sein.
- Das können aber auch unbequeme Antworten oder Themen sein, denen wir gern aus dem Weg gehen möchten.
Wie wohl du dich mit Stille fühlst, hängt stark von der Frage ab:
Was erwartest du (bewusst oder unbewusst), was dir in der Stille begegnen wird?
Hier sind dem Geist (und manchmal auch dem Körper) alle möglichen Ablenkungsmanöver recht – sogar unangenehme Stromstöße, wie das amerikanische Experiment zeigt.
In der Stille merken wir deutlich, wie aktiv unser Gedankenkarussell ist.
Für viele von uns gehört so viel Reizüberflutung zum Alltag, dass Stille selten ist. Wenn sie uns nicht vertraut ist, ist es ganz normal, dass sich das unangenehm anfühlen kann. Auch meine Kursteilnehmerin Andrea war früher überzeugt, dass Meditation nichts für sie ist. Mittlerweile meditiert sie seit knapp einem Jahr – und das fast täglich! In Andreas Case-Study kannst du nachlesen, wie es dazu kam.
Andreas Geschichte macht Mut. Und sie zeigt zugleich, wie normal es ist, wenn wir uns zunächst lieber ablenken. Manchmal ist es einfach verlockend, das Gedankenkarussell durch Beschäftigung für eine Weile auszublenden. (Wenn du effektivere Strategien suchst, um kreisende Gedanken zu beruhigen, lies unbedingt diesen Artikel.)
Je stärker unsere Tendenz ist, unangenehme Themen „unter den Teppich zu kehren“, desto mehr suchen wir Beschäftigung und Ablenkung.
Was genau so ein unangenehmes Thema sein kann, ist ganz individuell. Möglicherweise wollen wir uns (noch) nicht eingestehen, dass wir an einem Job oder einer Beziehung festhalten, obwohl wir eigentlich wissen, dass wir damit nicht glücklich werden.
Und natürlich kann es nach traumatischen Erlebnissen sein, dass sich Stille einfach nicht sicher anfühlt. In solchen Fällen rate ich dringend, zunächst Hilfe bei einer Psychotherapeutin einzuholen. Wenn aus psychotherapeutischer Sicht nichts dagegen spricht, dann kann man sich schrittweise an Meditation herantasten.
Denn mit der Stille ist es so: Du wirst nicht nur eine Kategorie von Antworten finden, sondern früher oder später begegnen dir alle Arten von Themen – die erhofften ebenso wie ein paar unangenehme.
Trauen wir uns zu, auch das Unbequeme auszuhalten, damit das Gewünschte nicht verloren geht?
Es erfordert Übung, nicht mehr sofort ins nächste Ablenkungsmanöver hineinzuspringen. Meditation besteht oft darin, mit allem, was sich zeigt, still sitzenzubleiben.
Wenn wir lernen, uns auf diese Stille und Weite einzulassen, dann können wir tiefe Entspannung finden. Denn die kann sich erst einstellen, wenn wir auch im Inneren nicht mehr getrieben sind, auszuweichen, wegzulaufen oder uns abzulenken.
Wie viel Stille traust du dir heute zu?
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