„Zeit ist Geld“, sagen wir – und rauben sie uns und anderen, weil wir glauben, nie genug zu haben. Asteya, das yogische Gebot des Nicht-Stehlens, macht uns bewusst, wie tief unser Mangeldenken reicht, selbst im Hinblick auf Aufmerksamkeit, Energie und Lebenszeit. In einer Welt, in der KI längst schneller ist als wir, sparen wir vor lauter Effizienzdruck an der falschen Stelle: an unserer Zeit. Meditation schenkt sie uns zurück – sogar mit Zins und Zinseszins.
Zeit ist Geld?
Wir haben eine äußerst kritische Beziehung zur Zeit, findest du nicht? Die meisten von uns haben das Gefühl, immer zu wenig davon zu haben und hetzen nur so durch den Tag. Plötzlich stellen wir fest: Huch, es ist ja schon fast wieder Lebkuchensaison, dann ist es nicht mehr weit bis zum Advent mit seinem Countdown bis Weihnachten und schließlich Neujahr. „Wo ist die Zeit nur geblieben?“, fragen die einen. „Ja, die Zeit rennt“, bestätigen die anderen.
Der Film In Time geht sogar noch einen Schritt weiter: Darin ist Zeit tatsächlich zu Geld geworden. Jeder Mensch hat auf dem Unterarm einen Timer mit seiner Lebenszeit – wenn sie abläuft, stirbt er. Auch die Stadt ist in „Zeitzonen“ gegliedert: In den luxuriösen Prunkvierteln leben die Reichen praktisch ewig. In anderen Zonen kämpfen die Armen täglich um Minuten.
Zeit ist Geld als Ressource tatsächlich sehr ähnlich. Wenn wir uns mit Asteya, dem yogischen Gebot des Nicht-Stehlens, beschäftigen, dann sollten wir also unbedingt auch einen Blick auf die Uhr werfen.
Asteya: Du sollst nicht stehlen
Asteya ist das dritte ethische Prinzip in der Liste der Yamas und Niyamas, wie sie im Yoga Sutra aufgezählt werden. Asteya bedeutet Nicht-Stehlen – nicht nur auf materieller Ebene, sondern auch in Bezug auf immaterielle Ressourcen wie Energie, Aufmerksamkeit und eben: Zeit.
Asteya fordert uns auf, nichts zu nehmen, was nicht unseres ist. Das schließt Fragen ein wie:
- Inwiefern „kaufen“ wir uns Zeit auf Kosten anderer?
- Wie ungerecht ist die Zeitverteilung in unserer Gesellschaft?
- Wer bekommt wie viel Raum in Gesprächen, Meetings, Familienstrukturen?
Asteya und Mangeldenken
Das uralte Gebot von Asteya ist auch heute noch relevant, weil die Gesellschaft ein tief verwurzeltes, kollektives Mangeldenken hat – und heute mehr denn je schürt. Unsere Sprache verrät viel darüber, wie wir zur Zeit stehen. Sie klingt oft nach Kampf, nach Flüchtigkeit und Knappheit. Und selten wie etwas, das ein Geschenk oder gar in Fülle vorhanden ist.
Wie oft denkst du:
- Ich habe alle Zeit der Welt.
- Alles zu seiner Zeit.
- Gut Ding will Weile haben.
- Ich war so vertieft, ich hab komplett die Zeit vergessen.
Und wie oft denkst du:
- Ich muss mich beeilen.
- Mir läuft die Zeit davon.
- Ich muss Zeit sparen.
- Ich bin hinter dem Zeitplan.
- Das kostet unnötig Zeit.
Der Glaube, dass wir nicht genug haben und uns eigentlich mehr zusteht, verleitet uns dazu, dass wir anderswo zugreifen. Auch weil wir keine Zeit investieren wollen, suchen wir eine Abkürzung und nehmen Dinge, die uns nicht zustehen: zum Beispiel Ideen, die wir irgendwo aufgeschnappt, aber selbst noch gar nicht gründlich durchdacht oder verinnerlicht haben.
Aber auch ganz direkt stehlen wir anderen die Zeit, wenn wir:
- sie im Gespräch unterbrechen und die Redezeit an uns reißen
- durch schlecht vorbereitete oder ganz und gar sinnlose Meetings andere zum Nacharbeiten zwingen
- unpünktlich zu einem Termin, einer Verabredung oder einer Yogastunde kommen und den geplanten Ablauf dadurch für alle verzögern
KI, Effizienzwahn und der entgleitende Zeitbegriff
Wer glaubt, nie genug Zeit zu haben, lebt in innerer Unruhe und Dauerstress. Leider ist das ein Zustand, den unsere moderne Gesellschaft immer weiter befeuert.
Die Autorin, Dozentin und Yogalehrerin Deborah Adele schreibt:
„Wir sind in einer Kultur gefangen, in der unsere ganze Identität an unsere Leistungen geknüpft ist. Wir tragen alles, was wir zu erledigen haben, wie ein Abzeichen auf unserem T-Shirt vor uns her, damit es nur ja alle sehen. Aufgrund dieser Eile, so schnell wie möglich zum nächsten Punkt auf unserer Erledigungsliste zu kommen, haben wir gar keine Zeit mehr für uns selbst, keine Zeit, unser Leben richtig zu verarbeiten – und das ist vielleicht der schlimmste Diebstahl, den wir begehen.“
(Deborah Adele in „Yama und Niyama. Die 10 ethischen Grundregeln des Yoga“)
In vielen Branchen übernimmt künstliche Intelligenz immer mehr Aufgaben und erledigt in Sekundenschnelle, wofür Menschen zuvor Stunden, Tage oder gar Wochen gebraucht haben. In diversen Berufsgruppen haben Menschen den Wettlauf gegen die Zeit (noch so eine mangelgeprägte Redewendung!) schon verloren und bangen um ihre Jobs. Die Erwartungen, was in einer gewissen Zeit zu schaffen sein sollte, steigen inflationär. Daher ist es leichter denn je, darüber Druck, Mangel und Konkurrenzdenken zu schüren.
Und so stehlen wir kollektiv uns und anderen Zeit
- durch den Druck ständiger Erreichbarkeit und Verfügbarkeit
- durch das Verwischen der Grenzen zwischen Arbeits- und Freizeit
- mit Multitasking, bei dem wir möglichst viel, aber nichts richtig machen
- mit Sorgen und Grübeln (so begründet und nachvollziehbar dies auch sein mag)
Auch unser Zeitverständnis selbst entgleist durch die technologische Entwicklung und verstärkt den innen Druck, mithalten zu können.
Das Wirtschaftsmagazin Forbes berichtete 2024, dass berufliche Fähigkeiten noch vor rund 40 Jahren eine „Halbwertszeit“ von mindestens 10 Jahren hatten, bevor grundlegende Weiterbildungen notwendig wurden. Mittlerweile sei diese Halbwertszeit auf 4 Jahre geschrumpft – Tendenz weiter sinkend. Angesichts der rasanten Weiterentwicklung von KI-Tools müssten Kompetenzen nach weniger als 2 Jahren schon wieder aufgefrischt werden, so Forbes weiter.
Wir haben einen Punkt erreicht, an dem Fähigkeiten zum Teil schneller veralten, als sie in der Tiefe gelernt und durchdrungen werden können. Ist es da überraschend, wenn wir um jeden Preis nach Abkürzungen suchen?
Asteya als Gegenmittel zur Zeitgier
Das yogische Prinzip Asteya erinnert uns daran: Auch Zeit will achtsam behandelt werden. Gerade wenn uns durch äußere Anforderungen immer mehr Zeit genommen wird, ist es wichtig, den eigenen Umgang mit dieser Ressource so bewusst wie möglich zu gestalten:
- Wo raubst du dir selbst Zeit durch ineffizientes oder fremdbestimmtes Verhalten? (Multitasking, Doomscrolling, Reizüberflutung …)
- Wo erwartest du von anderen, dass sie ihre Zeit für dich verfügbar machen oder aufgeben?
- Wie fühlt es sich an, wenn jemand deine Zeit nimmt?
- Wo stiehlst du anderen Zeit?
- Wie kannst du mehr in deinem eigenen Zeitrhythmus leben?
- Von welchen Erwartungshaltungen könntest du dich befreien?
Zeitraub ist auch ein Ausdruck davon, dass wir (noch) nicht darauf vertrauen, dass alles Wichtige zur rechten Zeit geschehen darf. Meditation kann hier dabei helfen, diesen inneren Druck zu mildern und unsere Beziehung zur Zeit neu zu gestalten.
Meditation schenkt dir Zeit – mit Zins und Zinseszins
Im Mangeldenken meinen wir, Zeit sparen zu müssen oder keine Zeit für Meditation zu haben. Aber das Gegenteil ist der Fall. Meditation schenkt dir Zeit – sogar mit Zins und Zinseszins: In den 15, 20 oder 30 Minuten deiner Meditation kultivierst du mit etwas Übung so viel Erholung, Regeneration und Klarheit, dass du unter dem Strich jede Menge Zeit und Lebensqualität zurückgewinnst.
Denn:
- Du bist dadurch in der Lage, alle deine Aufgaben mühelos zu überblicken und viel effizienter zu erledigen – auch ohne unlautere Abkürzungen.
- Du triffst zielsicher die richtigen Entscheidungen und hältst dich nicht mit unnötigen Umwegen auf, die nur Zeit und Nerven kosten.
- Du kannst deine Emotionen besser regulieren und findest innere Ruhe und Gelassenheit – Druck von außen geht dir weniger unter die Haut.
- Du richtest den Blick auf das Wesentliche und lässt dich nicht mehr vom Drama mitreißen. Das bedeutet: weniger Grübelzeit und Gedankenschleifen.
20 Minuten Meditation pro Tag sind eine geringe Investition. Und – wenn wir bei der Sprache des Geldes bleiben – kaum eine Aktivität bringt dir so einen hohen Return on Investment.
Denn deine innere Ruhe, Klarheit und emotionale Freiheit haben keine Halbwertszeit. Es sind Lifetime Skills.
Zum Weiterlesen: Die Yamas und Niyamas
Dieser Blogbeitrag ist Teil einer wachsenden Themenreihe über die Yamas und Niyamas – die 10 ethischen Grundsätze des Yoga, wie sie im Yoga Sutra aufgezählt werden. Hier findest du alle Texte aus dieser Serie:
- Was sind Yamas und Niyamas? Die ethischen Grundlagen des Yoga alltagstauglich erklärt
- Yoga bei Frozen Shoulder: Ahimsa in der Praxis
- Satya: Wahrhaftigkeit durch Schattenarbeit
- Satya: Was ist „echte“ Kommunikation im KI-Zeitalter?
- Asteya: Hör auf, einem Leben hinterher zu jagen, das nicht deins ist
- Asteya: Gegen den Zeitdiebstahl der modernen Welt
- Brahmacharya: Kein Lunch-Date mit Voldemort
Schreibe einen Kommentar