Brahmacharya: Kein Lunch-Date mit Voldemort

Junge, gestresste Frau hält sich die Ohren zu. Darunter der Schriftzug: "Die Yamas & Niyamas: Brahmacharya. Wie gehst du mit deinen Sinnen um?"

Brahmacharya – oft missverstanden als Zölibat oder asketische Entsagung – ist in Wirklichkeit ein sehr alltagstaugliches Prinzip. Es lädt uns ein, zielgerichtet mit unserer Energie umzugehen und uns nicht in Reizen, Konsum oder Multitasking zu verlieren. Was gibt dir wirklich Kraft? Und was raubt dir Energie, ohne dass du es merkst? Ich selbst durfte das erst kürzlich wieder spüren, als mir plötzlich Voldemort beim Mittagessen gegenüber saß. Spoiler: War nicht besonders erholsam.

Mehr als nur Enthaltsamkeit

Brahmacharya ist der vierte ethische Grundsatz in der Liste der Yamas und Niyamas im Yoga Sutra und wird häufig intepretiert als Zölibat oder sexuelle Enthaltsamkeit. Diesen Wert einfach mit einem Keuschheitsgebot gleichzusetzen, greift jedoch zu kurz. Das würden die meisten von uns wohl weder als lohnenswert noch als mehrheitsfähig betrachten. Und wie alle anderen Yamas und Niyamas richtet sich auch der Grundsatz von Brahmacharya an jede(n) einzelne(n) von uns.

Treffendere Übersetzungen könnten sein: Mäßigung, Verhältnismäßigkeit, Maßhalten. Denn bei Brahmacharya geht es darum, achtsam und sinnvoll mit unserer Energie zu haushalten. Das schließt die sexuelle Energie mit ein, beschränkt sich aber nicht darauf. Und es geht auch darum zu hinterfragen, wie viel Sinnesreize uns eigentlich gut tun – und wo Reizüberflutung und Überstimulierung uns aus dem Gleichgewicht bringen.

Deine Energie ist kostbar: Wo fließt sie hin?

Wörtlich übersetzt bedeutet Brahmacharya „sich auf das Göttliche ausrichten“. Es ist also eine Einladung zu überlegen: Wie können wir unser Leben und unsere Energie auf etwas Höheres oder auf das Wesentliche konzentrieren?

Viel Energie geht zum Beispiel durch Reizüberflutung über die Sinne verloren. Jeder, der einen Bürojob hat, kennt es nur zu gut: Obwohl du nicht viel körperliche Betätigung hast, sondern den ganzen Tag am Schreibtisch sitzt, bist du zum Feierabend ausgelaugt und erschöpft. Denn acht oder mehr Stunden auf einen Bildschirm zu starren oder gar einen Telefonanruf nach dem anderen anzunehmen: Das sind Höchstleistungen für die Sinne, die jede Menge Energie kosten.

Und wir sind diesen Stress durch Reizüberflutung so sehr gewohnt, dass wir unseren Sinnen auch in der Freizeit oft keine Pause gönnen. Achte mal darauf, wie sehr all das den Alltag bestimmt:

  • ständiges Scrollen auf Social Media (und manchmal denken wir sogar irrtümlich, wir würden dabei entspannen)
  • die Autoplay-Funktion aller Streaming-Anbieter, mit der wir uns in einen Serienmarathon hineinziehen lassen, weil nach jeder Folge direkt die nächste abgespielt wird
  • die Dauerberieselung mit Hintergrundmusik und Werbebotschaften in Endlosschleife

All das ist nicht „normal“ – das ist zur Gewohnheit gewordene Überforderung. Ist es da ein Wunder, dass so viele Menschen das Gefühl haben, ihren Stress nicht in den Griff zu bekommen?


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Maßhalten für ein Leben in Balance

Brahmacharya ist also auch Selbstschutz: Wie lernen wir, auf uns zu achten, ohne uns zu überfordern oder unsere Energie in Nebensächlichkeiten zu zerstreuen?

Pandit Rajmani Tigunait schreibt in seinem Kommentar zu Yoga Sutra 2:38:

„Die Praxis von brahmacarya führt zur Erlangung von virya, Vitalität und Lebenskraft. Vyasa erklärt dieses Sutra dahingehend, dass die Kraft und Vitalität, die wir durch diese Praxis erlangen, uns in einem solchen Maße heilen und nähren, dass nichts den Aufstieg der unserem Körper und Geist innewohnenden Kraft und Intelligenz behindern kann.“ 

Pandit Rajmani Tigunait in „Die Praxis des Yoga Sutra – Sadhana Pada“, Kommentar zu YS 2:38

Brahmacharya als förmliche Praxis kann verschiedene Übungen umfassen, die unsere Sinne entspannen und unsere Energie klären und wieder auffüllen. Pranayama (yogische Atemübungen zur Kontrolle von Prana, Lebensenergie), Pratyahara (der Rückzug bzw. die Entspannung der Sinne) und Meditation sind also nicht nur höhere Stufen, die im achtgliedrigen Yoga-Pfad auf den Yamas und Niyamas aufbauen. Sondern all diese Elemente ergänzen sich und greifen auf verschiedenen Ebenen ineinander.

Aber auch die Selbstreflexion und achtsame Wahrnehmung ist – wie bei allen Yamas und Niyamas – unentbehrlich.

Kein Lunch-Date mit Voldemort

Ich gebe dir ein persönliches Beispiel: Ich bin auch in meinen Pausen gern effizient und nutze manchmal meine Mahlzeiten, um beim Essen eine Serie oder auch einen Film (portionsweise über mehrere Mahlzeiten und Tage verteilt) zu schauen. Dass genau dieses Multitasking nicht sinnvoll ist, ist mir bewusst. Manchmal ist es trotzdem angenehm, manchmal aber auch nicht. 

Vor ein paar Monaten habe ich die komplette Harry-Potter-Filmreihe auf diese Weise beim Mittagessen geschaut – bis es mir zu viel wurde. Ich habe mich plötzlich gefragt: Will ich wirklich gerade ein Lunch-Date mit Voldemort haben? Eigentlich nicht! Mich stressten die dramatische Musik, der Schlagabtausch, die schnellen Schnitte und Szenenwechsel. 

Daraufhin habe ich mir einen Monat ohne Mahlzeiten-Untermalung verordnet: einfach nur mein Essen und ich. Statt Augen und Ohren zu überfordern, konnte ich den Geschmackssinn und das Essen viel mehr genießen. Und der gelegentliche Blick aus dem Fenster auf die Bergkulisse rund um Garmisch-Partenkirchen herum ist natürlich auch viel erholsamer und sehenswerter als die Fiktion auf dem Bildschirm.

Dieser Monat war eine Wohltat. Aber ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass ich seitdem immer so vernünftig bin. Ich finde viel Inspiration in Filmen und Serien und hin und wieder genieße ich es, wenn ich sie beim Essen schaue.

Brahmacharya ist für mich auch die Achtsamkeit zu merken: Wann kippt es und tut mir nicht mehr gut?

Wann ist es einfach zu viel?

Damit sind wir wieder beim Thema: Maßhalten statt Verbot.

Die erste Portion deines heiß ersehnten Lieblingsgerichts? Schmeckt immer hervorragend! Die zweite Portion? Vielleicht auch noch. Aber je öfter du dir Nachschlag nimmst, desto mehr verliert es seinen Zauber – und irgendwann ist dir einfach nur schlecht.

Brahmacharya bedeutet: Finde den „Sweet Spot“ in allem, was du tust und konsumierst.

  • Wann fühlt sich Genuss wie echter Genuss an – und wann kippt er in Betäubung oder Übersättigung?
  • Welche Routinen nähren dich wirklich – und welche kosten dich mehr Energie als sie dir geben?
  • In welchen Momenten fühlst du dich überreizt, obwohl eigentlich gar nichts „Schlimmes“ war?
  • Wo verwechselst du „Pause“ mit Konsum – und wie fühlt sich der Unterschied an?
  • Wann wird Musik, Duft, Licht, Deko oder visuelle Stimulation zum Genuss – und wo beginnt Überforderung?

Und schließlich: Nimm dir immer wieder Pausen, damit die Reizüberflutung nachlässt und deine Sinne zur Ruhe kommen können. Genau deshalb ist Meditation so wertvoll! Sie bündelt deine zerstreute Energie und führt dich zurück zum Wesentlichen. 

In einer Welt voller Ablenkung ist Meditation die radikalste Form von Selbstschutz.


Zum Weiterlesen: Die Yamas und Niyamas

Dieser Blogbeitrag ist Teil einer wachsenden Themenreihe über die Yamas und Niyamas – die 10 ethischen Grundsätze des Yoga, wie sie im Yoga Sutra aufgezählt werden. Hier findest du alle Texte aus dieser Serie:


Stefanie Seher Porträt

Hi, ich bin Stefanie!

Ich unterrichte Yoga und Meditation und schreibe hier darüber, wie du mehr Verbindung, Tiefe und Erfüllung in deiner Praxis finden kannst – und wie du all das in deinen eigenen Unterricht einfließen lassen kannst.


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