Der ethische Grundsatz von Santosha bedeutet „Zufriedenheit“ und gehört zu den Niyamas im Yoga Sutra. In einer Gesellschaft voller Leistungsdruck und Perfektionismus ist Santosha die Fähigkeit, in sich zu ruhen und sagen zu können: Das ist gut genug. Und zwar ganz ohne Trotz, Faulheit oder Verweigerung – sondern als Ausdruck von Selbstwert, Vertrauen und Fülle.
Wer sind wir, wenn wir nicht den Erwartungen entsprechen?
Leistungsdruck basiert auf einem Mangeldenken. Von klein auf prasseln die Erwartungen anderer auf uns ein, egal ob Eltern, Lehrer oder spätere Arbeitgeber. Und selbst die Werbeindustrie signalisiert uns bei jeder Gelegenheit, dass wir nicht genug haben, dass wir nicht schön genug sind, dass unser Haushalt noch perfekter geführt werden könnte und so weiter. So denken wir: „Ich muss erst noch XY schaffen, dann bin ich gut genug.“ Und XY kann alles sein – ist ein Ziel erreicht, rutschen auf unserer inneren Optimierungsliste direkt drei weitere nach.
Der Disney-Film Encanto illustriert das auf eine Weise, die mir gerne mal die Tränen in die Augen treibt. Luisa, die ältere Schwester, ist mit einer besonderen Stärke gesegnet und trägt wortwörtlich die ganze Familie: Sie schleppt Esel, verrückt Häuser und löst die Probleme aller Dorfbewohner. In typischer Disney-Ohrwurm-Manier singt sie über ihren Druck, immer alles schaffen zu müssen: „Gib es deiner Schwester, weil sie nichts aufhält. Wollen wir doch mal sehen, wie lange sie das aushält. Wer bin ich, wenn ich die Kraft verlier?“
Die jüngere Schwester, Mirabel, hingegen hat ein ganz anderes Problem: Als einzige in der Familie hat sie keine magische Gabe – ein „Mangel“, den sie von ihrer Familie und der Dorfgemeinschaft immer wieder zu spüren bekommt. Und Onkel Bruno? Über den sprechen wir gar nicht erst, denn er ist in Ermangelung von Nützlichkeit bereits komplett aus dem Familiengefüge herausgefallen.
Santosha als Ausdruck von Fülle
Santosha hingegen baut auf Fülle: auf dem Wissen, auch jetzt schon wertvoll zu sein und genug zu haben. Es ist ein innerer Reichtum, der unabhängig ist von äußeren Umständen und den Erwartungen anderer. Und auch ganz eng gekoppelt an einen Selbstwert, der nicht verschwindet, wenn zum Beispiel eine gewisse Leistung einmal nicht erbracht werden kann.
Diese Erkenntnis ist am Ende schließlich die Kernaussage des Films Encanto: dass alle Familienmitglieder genau richtig und gut genug sind – ganz gleich, ob sie eine nützliche Gabe haben (Luisa), eine unbequeme und missverstandene Gabe (Bruno) oder gar keine Magie besitzen (Mirabel).
Darüber hinaus bedeutet Zufriedenheit auch, auf das perfekte Timing zu vertrauen: Dort, wo du jetzt bist auf deinem Weg, bist du genau richtig. Du hängst nicht hinterher, nur weil andere auf Social Media schon weiter zu sein scheinen. Santosha ist die Zufriedenheit, sich nicht ständig vergleichen zu müssen.
Diese Fülle heißt, nicht in jedem Moment nach dem zu suchen, was fehlt, und stattdessen wahrzunehmen und wertzuschätzen, was bereits da ist. Deshalb ist jedes Dankbarkeitstagebuch auch eine Santosha-Praxis.
Zufriedenheit heißt nicht Stillstand
Das Paradox daran ist aber: Oft entsteht gerade in der Zufriedenheit die Kraft weiterzugehen – ohne dass es zu einem Hamsterrad wird.
Das lässt sich auch gut in der Meditation beobachten. Wer mit dem Meditieren anfängt, um einfach nur möglichst schnell ein bestimmtes Ziel zu erreichen, wird ungeduldig. Und häufig geben Menschen auf, weil sie meinen, nicht schnell genug Fortschritte zu sehen. Sie säen die ersten Samen ihrer Praxis und erwarten, im gleichen Moment bereits reife Früchte ernten zu können. Santosha hingegen bedeutet, sich diesem inneren Garten ohne Ungeduld Tag für Tag liebevoll zuzuwenden.
Pandit Rajmani Tigunait schreibt über Santosha:
„Die Praxis der Zufriedenheit beginnt mit der bewussten Entscheidung, nicht auf die Früchte unserer Handlungen fixiert zu sein. Sie erfordert die tiefe Überzeugung, dass jene Kräfte, welche die Gesetze von Ursache und Wirkung beherrschen, dafür sorgen werden, dass unsere Handlungen Früchte tragen, wenn wir sie ausführen.“
(Pandit Rajmani Tigunait in „Die Praxis des Yoga Sutra – Sadhana Pada“, Kommentar zu YS 2:42)
Ganz praktisch sieht das zum Beispiel so aus:
- Eine Meditation ist auch dann wertvoll, wenn der Geist einmal nicht richtig zur Ruhe kommen wollte.
- Eine Asana-Praxis ist auch dann gut genug, wenn du Haltungen abwandeln oder auslassen musst, weil du dich gerade von einer Verletzung erholst.
- Du findest Zufriedenheit darin, eine schon vertraute Meditation über einen längeren Zeitraum täglich zu üben – statt schnellstmöglich auf etwas anderes oder Fortgeschritteneres zu drängen (für das du möglicherweise noch gar nicht bereit bist).
So wie in Encanto jede Figur zu ihrem eigenen Wert zurückfindet, erinnert auch Santosha uns daran: Wir müssen nichts beweisen.
Wo kannst du heute einfach mal sagen: „Es ist gut genug“ – statt dir unnötig Druck zu machen?
Zum Weiterlesen: Die Yamas und Niyamas
Dieser Blogbeitrag ist Teil einer wachsenden Themenreihe über die Yamas und Niyamas – die 10 ethischen Grundsätze des Yoga, wie sie im Yoga Sutra aufgezählt werden. Hier findest du alle Texte aus dieser Serie:
- Was sind Yamas und Niyamas? Die ethischen Grundlagen des Yoga alltagstauglich erklärt
- Yoga bei Frozen Shoulder: Ahimsa in der Praxis
- Satya: Wahrhaftigkeit durch Schattenarbeit
- Satya: Was ist „echte“ Kommunikation im KI-Zeitalter?
- Asteya: Hör auf, einem Leben hinterher zu jagen, das nicht deins ist
- Asteya: Gegen den Zeitdiebstahl der modernen Welt
- Brahmacharya: Kein Lunch-Date mit Voldemort
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