Santosha: Zufriedenheit hat ein Image-Problem

Eine Gruppe von Menschen steht nah beieinander, jede Person starrt auf ihr Handy. Davor der Schriftzug: "Santosha: Zufriedenheit hat ein Image-Problem"

„Zufrieden sein“ – das klingt nach dem kleinen Bruder von Glücklichsein. Ein bisschen brav, ein bisschen langweilig, ein bisschen so, als hätte man sich mit dem Leben abgefunden. Zufriedenheit hat sogar so ein schlechtes Image, dass eine Marketingexpertin mir davon abriet, dieses Wort zu verwenden. Dabei ist Santosha (Zufriedenheit) eine der wichtigsten Tugenden, die uns die Yogaphilosophie zu kultivieren rät – und die wir offensichtlich mehr denn je brauchen.

Zufriedenheit im Marketing?

Vor Kurzem sprach ich mit einer Marketingexpertin über ein Angebot zu den Yamas & Niyamas, den ethischen Prinzipien aus der Yogaphilosophie. (Denn ja, auch Yoga und Meditation sind ein Beruf, der Marketing erfordert. Mehr dazu findest du in meinem Artikel über spirituelle Care-Arbeit.)

Unter den Yamas und Niyamas, finde ich, hat gerade auch Santosha, die yogische Praxis der Zufriedenheit, mehr Beachtung verdient. Das Feedback dieser Marketingexpertin war bezeichnend: „Santosha? Das kenn ich nicht, obwohl ich hin und wieder Yoga mache.“ Im Alltag sieht es leider so aus, dass das philosophische Fundament des Yoga keine allzu große Rolle zu spielen scheint. Dass Yoga häufig immer noch als Fitnessroutine missverstanden wird, ist aber gar nicht das Hauptthema hier.

„Die Menschen wollen keine Zufriedenheit mehr“

Viel interessanter fand ich, dass sie diesem Konzept rund um Santosha nicht viel abgewinnen konnte. Sie erklärte: „In dieser Marketingwelt ist Zufriedenheit etwas, das die Menschen nicht mehr wollen. Zufriedenheit ist zu schwach.“

Ja, sie hat leider recht – Zufriedenheit hat ein Image-Problem. Denn sie fügte hinzu: „Natürlich wissen wir, dass Zufriedenheit gut ist, aber in der Sprache ist es zu wenig stark.“

„Zufrieden sein“ klingt unspektakulär. Zufriedenheit ist kein lautes, intensives, übersprudelndes Gefühl. Nicht der Dopamin-Hype, zu dem uns Social Media und Werbung ständig verleiten wollen.

„Sich zufrieden geben“ – das klingt auch nur oberflächlich nach tugendhafter Bescheidenheit. Unterschwellig klingt es nach Resignation und Verzicht, je nach Kontext sogar nach Anspruchslosigkeit oder dem fehlenden Antrieb, „mehr“ aus sich und seinem Leben machen zu wollen.

Ist das wirklich so? Oder wird uns Zufriedenheit einfach nur schwer gemacht?

Santosha – Zufriedenheit – ist in unserer Konsumgesellschaft eigentlich gar nicht gern gesehen. Social Media sind für Werbetreibende auch deshalb so attraktiv, weil dort ständig Vergleiche geschürt werden. 

Wenn du eben noch zufrieden warst mit deinem Leben, musst du nur Instagram öffnen und siehst eine Flut von „Influencern“, die zumindest den Anschein erwecken, als seien sie jünger, hübscher, erfolgreicher, sportlicher, beliebter oder dir auf andere Weise „voraus“. Wie viel davon der Wahrheit entspricht, ist unklar. Aber allein der schöne Schein erweckt beim ständigen Ansehen ein Gefühl von „Mangel“, das andernfalls möglicherweise nicht da gewesen wäre. (Weshalb solche „Influencer“ natürlich auch gleich mit passenden Werbepartnerschaften und Produktplatzierungen die Lösungen für diese neu geschaffenen Probleme verkaufen.)

Wie schon Theodore Roosevelt sagte: „Comparison is the thief of joy“ – Vergleiche stehlen die Freude.

Social Media als Quelle von Unzufriedenheit: Beispiele aus der Forschung

Das legen auch aktuelle Studien nahe, die die Auswirkungen der Social-Media-Nutzung auf Wohlbefinden, mentale Gesundheit und die Zufriedenheit mit dem eigenen Körper untersuchen. 

Eine im August 2025 veröffentlichte kanadische Studie zeigte beispielsweise, dass diese Vergleiche auf Instagram zum Teil mit einem geringeren Selbstwertgefühl und depressiven Symptomen einhergingen. 

Und das Journal of Eating Disorders veröffentlichte im September 2024 eine Studie, die dokumentierte, dass die Studienteilnehmerinnen aufgrund solcher Social-Media-Vergleiche weniger zufrieden mit ihrem Körper waren und ihr Essverhalten stärker kontrollierten.

Diese Studien zeigen: Vergleichen ist ein Risiko für das Gefühl, nicht gut genug zu sein oder nicht genug zu haben – und genau das untergräbt Zufriedenheit (Santosha) im yogischen Sinn. Diese Mechanismen werden in der Forschung als „Upward Social Comparison“ beschrieben, also der Vergleich mit vermeintlich „besseren“ oder „erfolgreicheren“ anderen, der das Selbstwertgefühl mindert.

Ist Unzufriedenheit eine Gewohnheit?

Dabei gibt es natürlich auch abseits der digitalen Welt viele weitere Quellen von Unzufriedenheit. Und manchmal frage ich mich, ob es nicht auch einfach eine Gewohnheit (zumindest hier in unserem Kulturkreis) ist, schon mit vergleichsweise unbedeutenden Dingen unzufrieden zu sein.

Nehmen wir das Wetter: Der Sommer war zu verregnet. Der goldene Oktober hätte goldener sein können. Und morgens ist es auch schon wieder ganz schön kalt. Es ist leicht, sich darüber zu beschweren, oder?

Und nächste Woche stellen wir die Uhren wieder auf die Winterzeit zurück. Ich persönlich freue mich darauf, weil es meinem Schlafrhythmus mehr entspricht. Aber ich stelle mich auch schon innerlich auf das alljährliche Smalltalk-Thema ein: „Jetzt ist es ja wieder ständig dunkel. Wenn man morgens aus dem Haus geht, ist es dunkel. Wenn man von der Arbeit heimkommt, ist es auch schon wieder dunkel.“ 

Beobachte mal, ob du dich auch dabei ertappst. Wir sind allgemein erstaunlich unzufrieden.

Wenn Unzufriedenheit allgegenwärtig ist – warum ist Zufriedenheit nicht die Lösung?

Das ist also die große Frage: Wir haben kein Problem damit zu spüren und auszudrücken, dass wir unzufrieden sind. Da müsste es doch eigentlich naheliegen, nach Zufriedenheit zu suchen, oder? Und damit sind wir wieder bei der Ausgangsfrage: Warum erscheint uns Zufriedenheit nicht erstrebenswert?

Auf der Skala von positiven Gefühlszuständen wirkt Zufriedenheit vergleichsweise unscheinbar hinter den Superlativen von übersprudelnder Freude, Begeisterung, Euphorie und Glückseligkeit. Solche Erfahrungen sind sehr eindrücklich – auch weil sie meistens punktuell sind. Sie lassen sich oft an konkrete Situationen, Erlebnisse oder Erinnerungen knüpfen. Und damit lassen sie sich natürlich auch in ebenso eindrücklichen Bildern vermarkten und bewerben.

Aber hast du mal beobachtet, wie anstrengend Euphorie sein kann? Wenn ein Treffen mit Freunden so ausartet, dass ihr vor Lachen schon Bauchschmerzen habt und der Geist komplett überdreht ist?

Zufriedenheit kultivieren heißt hingegen: Wir entwickeln ein nachhaltiges, ruhiges und unaufgeregtes Wohlbefinden, das die Illusion von Mangel auflöst. (Darüber habe ich auch in diesem Beitrag geschrieben: Santosha: Gut genug statt Leistungsdruck) Weniger Mangelgefühle bedeuten: Wir lassen uns weniger Unsicherheiten einreden, konsumieren weniger Überflüssiges und suchen weniger im Außen nach Dingen oder Personen, die uns glücklich machen.

Gerade deshalb: Santosha!

Die yogische Praxis von Santosha zielt also genau darauf ab: 

  • die inneren Ressourcen zu stärken,
  • weniger anfällig für die Suggestionen und Ablenkungen von außen zu sein
  • und die damit einhergehenden Begierden zu verringern.

Und was passiert dann? Yoga Sutra 2:42 sagt unmissverständlich:

„Aus der Zufriedenheit entsteht unvergleichliches Glück.“

(Yoga Sutra 2:42, zitiert aus: Pandit Rajmani Tigunait: „Die Praxis des Yoga Sutra – Sadhana Pada“, übersetzt von Michael Nickel)

Zufriedenheit ist also nicht der uncoole kleine Bruder des Glücklichseins – sondern die Voraussetzung dafür. Deshalb finde ich, wir sollten Zufriedenheit in unser Leben und in unseren Sprachgebrauch zurückholen.

Bis die Marketing-Gurus überstimmt sind.

Bist du dabei?


Stefanie Seher Porträt

Hi, ich bin Stefanie!

Ich unterrichte Yoga und Meditation und schreibe hier darüber, wie du mehr Verbindung, Tiefe und Erfüllung in deiner Praxis finden kannst – und wie du all das in deinen eigenen Unterricht einfließen lassen kannst.


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