Viele denken bei Yoga an Bewegung, Dehnübungen und Entspannung. Doch eigentlich ist Yoga ein Weg der Selbsterkenntnis. Auf diesem Weg sind nicht die Körperhaltungen das zentrale Element, sondern Meditation. Die Yamas und Niyamas als ethische Prinzipien bilden das Fundament, damit diese Praxis gelingen kann. Sie machen Yoga zu einer alltagstauglichen Lebensphilosophie – und zeigen uns, wo unsere Herausforderungen und unser Wachstum wirklich liegen. In diesem Beitrag findest du Ressourcen für deine Beschäftigung mit den Yamas und Niyamas.
Was sind die Yamas und Niyamas?
Wenn von den Yamas und Niyamas die Rede ist, sind meistens die zehn ethischen Prinzipien des Yoga gemeint, wie sind in Patanjalis Yoga Sutra aufgelistet werden. Sie sind Teil des berühmten „achtgliedrigen Pfads“, den Patanjali im zweiten Kapitel des Yoga Sutra (ab Sutra 2:28) erklärt. Der „achtgliedrige Pfad“ umfasst die acht Komponenten des Yoga, die nötig sind, damit unser Geist die höchste Stufe der Reinheit, Freiheit und Erleuchtung erreichen kann. Ziel ist es, einen Bewusstseinszustand zu erlangen, in dem wir voll und ganz in unserer essenziellen Natur verankert sind – frei von jeglichen Sorgen, Ängsten und falschen Vorstellungen.
Die Komponenten des achtgliedrigen Pfads sind laut YS 2:29:
- Yama („Selbstbeschränkung“)
- Niyama („Einhaltung von Geboten und Vorsätzen“)
- Asana („körperliche Haltung“)
- Pranayama („Beherrschung der pranischen Kraft“)
- Pratyahara („Rückzug der Sinne“)
- Dharana („Konzentration“)
- Dhyana („Meditation“)
- Samadhi („mentale Absorption“)
Die deutschen Übersetzungen der acht Komponenten (sowie auch später der Yamas und Niyamas) sind von Michael Nickel übernommen, dem Übersetzer von Pandit Rajmani Tigunaits Buch „Die Praxis des Yoga Sutra – Sadhana Pada“.
Die ethischen Prinzipien der Yamas und Niyamas stehen also ganz oben auf der Liste und bilden die Grundlage des Yogawegs.
Pandit Rajmani Tigunait weist in seinem Kommentar zu YS 2:29 darauf hin, dass sich alle Komponenten dieses achtgliedrigen Pfads ergänzen und deshalb auch zusammen praktiziert werden sollten.
Das Yoga Sutra zählt jeweils fünf Yamas und Niyamas auf. Jedes dieser Themen kann in unterschiedlichsten Nuancen betrachtet werden. Und unser Verständnis der Yamas und Niyamas wird sich auch immer wieder verändern, je nachdem wie unsere gesellschaftliche, politische, technologische und spirituelle Entwicklung voranschreitet. Basierend auf meiner Auseinandersetzung mit den ethischen Grundprinzipien findest du hier eine wachsende Themenreihe rund um die Yamas und Niyamas für deine Kontemplation.
Die Yamas im Yoga Sutra: Selbstbeschränkungen
Die fünf Yamas sind „Selbstbeschränkungen“, denn sie drücken aus, wovon wir uns auf dem Yogaweg aktiv distanzieren sollen: von Gewalt, Lügen, Diebstahl, Missbrauch unserer Sinne sowie vom Horten materieller oder emotionaler Dinge.
Panditji erklärt:
„Die Praxis der fünf Selbstbeschränkungen ist die Grundlage für ein gesundes Leben. Trotz der Unterschiede in unserer spirituellen, weltanschaulichen und beruflichen Ausrichtung haben wir alle ein gemeinsames Ziel – ein gesundes, glückliches und erfülltes Leben zu führen. […] Für angehende Yogis beginnt die Praxis damit, diese Tugenden zu kultivieren, bis wir durch beständige Praxis und Selbstreflexion in ihnen verankert sind. Bis dahin üben wir diese Beschränkungen als eines der Glieder des yoga und legen die Messlatte immer höher, je stärker und erleuchteter wir werden.“
(Pandit Rajmani Tigunait in seinen Kommentaren zu YS 2:30 und 2:31 in „Die Praxis des Yoga Sutra – Sadhana Pada)
Schauen wir uns also die Yamas im Einzelnen an.
Ahimsa: Gewaltlosigkeit
Ahimsa (Gewaltlosigkeit) ist allen anderen ethischen Prinzipien im Yoga übergeordnet. Es geht darum, weder sich selbst noch anderen durch Gedanken, Worte oder Taten zu schaden. Viel Leid, das wir uns und anderen zufügen, ist Ausdruck eines fehlgeleiteten Selbsterhaltungstriebs, wenn sich unser Ego oder unsere Selbstidentität bedroht sieht. Jedes dieser ethischen Prinzipien können wir auf den Umgang mit uns selbst und mit anderen Wesen (Mensch wie auch Tier) anwenden.
Für ein sehr konkretes Beispiel lies gern hier weiter: Yoga bei Frozen Shoulder: Ahimsa in der Praxis
Satya: Wahrhaftigkeit
Satya (Wahrhaftigkeit) bedeutet, aktiv auf Lügen, Manipulation und Täuschung zu verzichten. Denn immer wenn wir nicht ehrlich und aufrichtig sind, entsteht ein innerer Spannungszustand. Dieser beeinträchtigt unsere Beziehung zu anderen, aber auch zu uns selbst – und erschwert dadurch unseren Fortschritt auf dem Yogaweg der Selbsterkenntnis.
Dass wir andere nicht anlügen sollen, mag ein wenig banal klingen. Aber wenn wir die blinden Flecken unseres Unterbewusstseins erkennen, stellen wir fest, dass wir oft auch unsere eigenen Beweggründe nicht ehrlich einschätzen.
Wie du mit Selbstreflexion und Schattenarbeit mehr Wahrhaftigkeit kultivierst (und was das Ganze mit Manifestieren zu tun hat), erfährst du hier: Satya: Wahrhaftigkeit durch Schattenarbeit
Und wie aufrichtig ist unsere Kommunikation eigentlich, wenn immer mehr Texte von KI-Tools wie ChatGPT stammen? Dieser Frage bin ich in diesem Beitrag nachgegangen: Satya: Was ist „echte“ Kommunikation im KI-Zeitalter?
Genauso herausfordernd kann auch das Spannungsfeld von Ahimsa und Satya sein: Was ist besser – die höfliche Notlüge oder schonungslose Ehrlichkeit?
Asteya: Nicht-Stehlen
Asteya (Nicht-Stehlen) bedeutet, nichts zu nehmen, was uns nicht zusteht: Geld, Zeit, Aufmerksamkeit, Ideen, Energie – die Liste ist lang!
Brahmacharya: Enthaltsamkeit
Brahmacharya bedeutet nicht in erster Linie sexuelle Enthaltsamkeit, sondern vor allem Mäßigung im Umgang mit unseren Sinnen und ein achtsamer Einsatz unserer Lebensenergie.
Aparigraha: Nicht-Besitzstreben
Aparigraha (Nicht-Besitzstreben) bedeutet, uns nicht an Dinge zu klammern und das loszulassen, was wir nicht (mehr) brauchen. Dies können materielle Dinge sein, aber auch Beziehungen, Gedanken oder Erwartungen – also jeglicher Ballast, der uns davon abhält, innerlich frei zu sein.
Die Niyamas im Yoga Sutra: Gebote und Vorsätze
Die Niyamas sind fünf weitere ethische Prinzipien, die uns daran erinnern, welche positiven Qualitäten wir kultivieren sollen. Sie haben zwar einen weniger direkten Bezug zur Außenwelt als die Yamas. Aber unsere Mitmenschen werden auch im Falle der Niyamas bemerken, dass sich unsere Persönlichkeit zum Positiven weiterentwickelt, wenn wir diese Prinzipien zunehmend beherzigen und verkörpern.
Die einzelnen Niyamas werden im Yoga Sutra in den Versen 2:40 bis 2:45 behandelt.
Saucha: Reinheit
Saucha bezieht sich zum einen auf die äußere Reinheit: simple Körper- und Haushaltshygiene. Zum anderen ist die innere Reinheit gemeint: eine gewisse mentale Hygiene, bei der wir darauf achten, welche Gedanken wir kultivieren wollen und welche Eindrücke nicht hilfreich sind. Beides ist wichtig für unsere innere Ausgeglichenheit.
Santosha: Zufriedenheit
Santosha ist die Kunst, im Reinen zu sein mit dem, was wir jetzt haben. Zufriedenheit bedeutet nicht, dass wir antriebslos oder unmotiviert sind. Sondern Zufriedenheit entsteht, wenn der Geist nicht getrieben oder zwanghaft darauf fokussiert ist, einer willkürlichen Idee von „mehr“ nachzujagen.
Tapas: Selbstdisziplin
Tapas bezeichnet die innere Hitze, die durch die Reibung entsteht, wenn wir uns in unserer Praxis bewusst einem Widerstand aussetzen. Das sind die Momente, in denen sich unser innerer Schweinehund zeigt und wir die Wahl haben: Wie gehen wir mit dieser Herausforderung um? Können wir sie nutzen, um daran zu wachsen und unsere strahlende Essenz etwas mehr zum Vorschein zu bringen?
Svadhyaya: Selbststudium
Svadhyaya bedeutet Selbsterforschung, zum Beispiel durch das Studium von Schriften, durch (Mantra-)Meditation und Selbstreflexion. Eine gute Unterstützung ist das Journaling nach der Meditation, wenn der Geist ruhig ist und der Zugang zu unserem höheren Bewusstsein leichter gelingt.
Ishvara pranidhana: vertrauensvolle Hingabe an Ishvara (das Göttliche)
Definitiv ein Fall von „last but not least“: Ishvara pranidhana ist keineswegs zu vernachlässigen, auch wenn es das letzte Grundprinzip in dieser Aufzählung ist. Für viele von uns ist es möglicherweise sogar das fortgeschrittenste. Denn Ishvara pranidhana bedeutet, das Bewusstsein zu kultivieren, dass wir Teil etwas Größeren sind. Dass es eine höhere Realität gibt, von der wir gehalten werden und die es gut mit uns meint. Panditji nennt es „einen Zustand der Freiheit von Zweifel und Furcht“ (in seinem Kommentar zu YS 2:32). Das ultimative Vertrauen also!
Fazit: Die Yamas und Niyamas sind dein Kompass für ein erfülltes Leben
Egal, wo du dich auf deinem Weg befindest: Die Yamas und Niyamas können auch dir wie ein Kompass den Weg weisen zu einem Leben mit weniger inneren und äußeren Konflikten und mehr Freude und Erfüllung. Jedes dieser ethischen Prinzipien lässt sich herunterbrechen von großen, überwältigenden Idealen hin zu kleinen und sehr konkreten Anwendungsfällen für den Alltag.
Spürst du bei einem der Yamas oder Niyamas einen diffusen Widerstand? Dann kann das schon ein erster Ansatzpunkt sein, dieses Prinzip zu hinterfragen und aus unterschiedlichen Perspektiven zu erforschen.
Oder fasziniert dich eines besonders, aber es wirkt herausfordernd oder gar unerreichbar? Dann beschäftige dich mit einem Teilbereich davon oder konzentriere dich auf eine konkrete Situation. Selbstreflexion ist bereits einer dieser zentralen Werte!
Panditji fasst zusammen:
„Die fünf Yamas und die fünf Niyamas sind sehr subtil. Oberflächlich betrachtet scheinen sie eine Reihe von yogischen ethischen Prinzipien zu bilden. Eine tiefere Analyse zeigt jedoch, dass jede dieser Selbstbeschränkungen und zu beachtenden Gebote eine eigene kraftvolle Praxis darstellt. Die Beherrschung einer dieser Praktiken wird unser Streben nach samadhi beschleunigen, und die Nichtbeachtung einer dieser Praktiken wird uns daran hindern, Fortschritte zu machen.“
(Prandit Rajmani Tigunait in „Die Praxis des Yoga Sutra – Sadhana Pada“, Kommentar zu YS 2:32)
Weitere Ressourcen zur Inspiration und Unterstützung
Diese Themenserie wird in den kommenden Monaten weiter wachsen. Jeden Sonntag folgt ein neuer Beitrag, der einen bestimmten Teilbereich der Yamas und Niyamas erforscht. Wenn du keinen Beitrag verpassen möchtest, melde dich gern hier für meinen Newsletter an. Dann halte ich dich über alle neuen Ressourcen auf dem Laufenden.
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