Wie viel von deinem Leben ist wirklich deins – und wie viel hast du übernommen, weil „man das halt so macht“? Asteya, das yogische Prinzip des Nicht-Stehlens, fordert uns heraus, genau das zu hinterfragen.
Kollektives und persönliches Stehlen
Asteya, „Nicht-Stehlen“, ist der dritte ethische Grundsatz in der Liste der Yamas und Niyamas im Yoga Sutra. Bei „Du sollst nicht stehlen“ haben wir wahrscheinlich sofort eine Vorstellung. Um dieses Prinzip zu verstehen, müssen wir eigentlich gar nicht in die Ferne zur indischen Yogaphilosophie schauen – auch in europäischen Ländern gehört dieses Grundprinzip zum kulturgeschichtlichen Ethik-Standardrepertoire.
Und wie bei all diesen Prinzipien können wir auch Asteya auf unterschiedlichste Weise betrachten: vom großen, kollektiven Stehlen bis hin zu kleinen, persönlichen Alltagsmomenten. Neben unstrittig definierten Vergehen wie Ladendiebstahl umspannt Asteya auch Fragen wie zum Beispiel:
- Wie gehen wir mit den Rohstoffen unseres Planeten um? In dem Wort „Raubbau“ steckt auch sprachlich schon ein Zu-viel-Nehmen drin!
- Wo stehlen wir als Gesellschaft durch fehlgeleitete Politik und ein marodes Rentensystem von zukünftigen Generationen? Jede Art von „Nach mir die Sintflut“-Denken ist ein Stehlen von der Zukunft.
- Wo rauben wir auf der Arbeit unseren Kollegen Zeit (und Nerven) durch sinn- und ergebnislose Meetings? Auch unseren Umgang mit der Ressource Zeit können wir durch den Blickwinkel von Asteya betrachten.
Je größer, komplexer und kollektiver das Phänomen, desto schwerer wird es für Einzelpersonen, mit ethischem Verhalten einen spürbaren Unterschied zu bewirken. Deshalb lass uns hier einmal einen Aspekt von Asteya betrachten, der einen konkreteren Bezug zur Yogaphilosophie und zu unserem persönlichen Alltag hat.
Was ist eigentlich „nicht deins“?
In einer sehr allgemeinen Auslegung können wir Asteya interpretieren als den Leitsatz: Hör auf, dem hinterher zu jagen, was nicht deins ist.
Welche Ziele hast du in deinem Leben? Was betrachtest du als deine Aufgabe, deine Rolle, deine Mission? Und ist all das wirklich das, was deine Seele auf der Erde erleben möchte? Oder sind da vielleicht manche Dinge nur auf der Liste, weil sie es sein „sollten“? Weil „man das halt so macht“? Oder weil es von dir erwartet wird?
Die Bhagavad Gita sagt ganz unmissverständlich über unsere Lebensaufgabe (Dharma):
Es ist besser, in seinem eigenen Dharma [unvollkommen] zu streben, als im Dharma eines anderen erfolgreich zu sein. Nichts ist je verloren, wenn man seinem eigenen Dharma folgt, aber Wetteifern im Hinblick auf den Dharma eines anderen erzeugt Angst und Unsicherheit.
(Bhagavad Gita 3:35)
Wenn wir also ständig dem hinterher rennen, was nicht für uns bestimmt ist, dann wird uns das nicht glücklich machen. Dann fühlt sich das ganze Leben so an, als würdest du einen Einkaufswagen mit blockierten Rädern über Kopfsteinpflaster schieben – du kommst zwar voran, aber jeder Schritt kostet übermäßig viel Kraft.
Um unseren Dharma zu finden, sind Begeisterung, Freude und Faszination ein guter Wegweiser!
Dein Leben ist kein Copy-Paste-Projekt
Asteya lädt uns ein zu hinterfragen: Was in unserem Leben ist nur ein blasser Abklatsch eines anderen?
- Machst du eine Ausbildung oder Karriere, die eigentlich vor allem deine Eltern glücklich macht?
- Folgst du dem Traum vom Eigenheim, dem perfekt durchgestylten Haus oder dem „richtigen“ Auto, nur weil das der Weg ist, den alle in deinem Umfeld gehen?
- Eiferst du einem charismatischen Coach nach und versuchst, dir seinen Sprachstil anzueignen?
- Suchst du (vielleicht sogar mit ein bisschen verhohlenem Neid) die Nähe von besonders „magnetischen“ Personen in der Hoffnung, dass ihre Energie und ihr Strahlen auf dich abfärbt?
- Sind die beige Farbpalette und die weißen Wallekleider in deinen Social-Media-Posts ein Ausdruck deiner eigenen Persönlichkeit – oder „gehört das einfach nur dazu“ für eine spirituelle Frau auf Instagram?
Ich bin selbst schon in einige dieser Fallen hineingetappt, weil ich dachte, ich müsste so sein wie die anderen. Und ich habe frustriert festgestellt: Nur weil etwas bei anderen mühelos und natürlich aussieht, heißt das nicht, dass es bei mir auch so ist, wenn ich versuche, es nachzumachen.
Etwas sieht immer nur dann mühelos und natürlich aus, wenn es energetisch kongruent ist – also authentisch verkörpert. Das ist auch der Grund, warum Content-Templates schnell ihren Charme verlieren. Wenn du 20 Instagram-Reels mit dem gleichen trendigen Hook gesehen hast – hast du dann das Gefühl, eine der Personen wirklich in ihrer Individualität zu erkennen?
Reflexionsfragen
Für mich werden die Werte Echtheit und Freiheit immer wichtiger. Und da finde ich die Kontemplation rund um Asteya sehr hilfreich:
- Wo wird dein Leben durch den Vergleich mit anderen bestimmt?
- Wo willst du das, was andere haben – einfach nur um „mit den Nachbarn mithalten“ zu können?
- Wo zieht es dich hin, wenn du dich frei machst von Rollen und Erwartungen?
Asteya erinnert uns daran: Das Leben wird leichter und erfüllter, wenn wir aufhören, fremde Wege zu gehen. Meditation dient auch dazu, diesen Unterschied bewusst wahrzunehmen – und Schritt für Schritt dem zu folgen, was für uns wirklich stimmig ist.
Zum Weiterlesen: Die Yamas und Niyamas
Dieser Blogbeitrag ist Teil einer wachsenden Themenreihe über die Yamas und Niyamas – die 10 ethischen Grundsätze des Yoga, wie sie im Yoga Sutra aufgezählt werden. Hier findest du alle Texte aus dieser Serie:
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